Klein Zecher
Die Perspektive des Bahnwärters
Hell schallt der charakteristische Klang des Streckenläutewerkes über den Garten des Bahnwärterhauses in Klein Zecher und kündigt den nächsten Zug an. Dieser hatte bereits lange im nahen Zarrentin auf der Seite gestanden, von der Postenbude 15 aus ist sein hoher Rauchpilz am wolkenlosen Himmel des kühlen Herbsttages 1917 gut zu erkennen. Der Bahnwärter unterbricht die Arbeit im Vordergarten, während seine Frau vor dem Haus den Garten herausputzt. Er holt seine rotweiße Fahne und postiert sich auf der Dorfstraße, die hier die Gleise überquert.
In der Ferne zieht der Güterzug mit harten Auspuffschlägen an, ein kurzes Schleudern auf der Weiche, dann fassen die Räder wieder, der Zug muss recht schwer sein heute. Es würde noch etwas dauern, bis Klein Zecher erreicht ist. Der Bahnwärter sieht sicherheitshalber noch einmal die Straße entlang, die ja mehr ein Sandweg ist: kein Fuhrwerk in Sicht. Der Klang des nahenden Zuges verebbt für kurze Zeit, als er in den Wald eintaucht, der Zarrentin von Klein Zecher trennt.
Dann endlich kommt sie herangestampft, der Boden erzittert unter den Auspuffschlägen. Die BR55 mit ihrem langen Güterzug erreicht kaum 30 Stundenkilometer hier im Einschnitt, dafür ist die Ansprache des Zweizylindertriebwerkes umso deutlicher. Man hätte fast neben herlaufen können! Die G8.1 war sicherlich eine der besten Konstruktionen Robert Garbes, aber mit der Geschwindigkeit der Güterzüge ist es so eine Sache zu jener Zeit. Also gibt es in jedem Bahnhof der Strecke ein Überholgleis, damit die Reisezüge überhaupt noch durchkommen…
Als sich der Güterzug langsam entfernt, löst sich der Bahnwärter von dem beeindruckenden Anblick der dahinziehenden Dampfsäule und bringt die Fahne zurück ins Bahnwärterhaus. Vor kurzem war die Nachricht gekommen: Die Kaisergemahlin würde auf der Fahrt von Kiel zu Ihrem Landsitz in Cadinen in Ostpreußen hier vorbeifahren. Alle Bahnanlagen hätten in vorbildlichem Zustand zu sein, ebenso die Dienstkleidung. Daraufhin begann eine hektische Betriebsamkeit am Posten 15, die auch die Pflege des Gartens mit einschließt. Da widmet er sich lieber dem zweiten Teil der Vorgaben: nach subversivem Gesindel Ausschau zu halten, Grund für uns, die Epoche zu wechseln ...
Zeitsprung ins Jahr 1958. Wenige Meter östlich von Klein Zecher verläuft seit August 1945 die Zonengrenze. In den Monaten vorher wurde der Gesamtverkehr Hamburg - Berlin hier vorbeigeführt, da die Brücke über den Elbe-Lübeck-Kanal gesprengt worden war. Aber nun verkehren täglich nur noch drei Zugpaare, es ist Ruhe eingekehrt in Klein Zecher. Im Rahmen der Zonenrandförderung richtete die Bundesbahn an den Bahnwärterhäusern Haltepunkte ein und in Klein Zecher gab es fortan eine Ladestraße mit Umlaufmöglichkeit. Als Aufgabenstellung ist also der Fahrkartenverkauf hinzugekommen, aber langsam zeichnet sich ein Ende der Bahnwärterära in Klein Zecher ab.
Der Schienenbus hält vor einer beweglichen Deckungsscheibe Sh2, die den Güterteil rechts vom Bahnübergang vom Streckengleis trennt. Dadurch können das ehemalige Streckengleis und das Umlaufgleis zum Beladen verwendet werden. Eine Gleissperre sichert den Güterteil zusätzlich ab. Ist die Aufnahme an einem Sonnabend entstanden, würde die Zielanzeige im Führerstand „Ascheberg“ lauten. Wer wollte da nicht gern noch einmal mitfahren?
Die folgenden Abbildungen stellen den planmäßigen Abendbetrieb zwischen Klein Zecher und Hollenbek im Herbst 1958 dar. Eine Köf II, die Universallokomotive des Zonenrandgebietes, bringt den Nahgüterzug von Bad Oldesloe nach Hollenbek, bedient die Ortgütergleise, fährt weiter nach Klein Zecher und setzt dort um:

Der Schienenbus aus Bad Oldesloe endet um 19:23 Uhr in Hollenbek, 10 Minuten später fährt der Güterzug aus Klein Zecher zurück nach Bad Oldesloe. Um 19:37 Uhr trifft ein Zug mit Köf und Donnerbüchsen aus Mölln ein. Er stellt für die Reisenden aus Bad Oldesloe den Anschluss nach Klein Zecher dar.

Um 19:52 Uhr fährt der Schienenbus fährt zurück Neumünster, ohne den Anschlusszug abzuwarten, der Klein Zecher um 19:53 Uhr wieder verlässt. Haben wir etwas anderes erwartet?

In den Abbildungen ist dargestellt, wie die Köf die Ladegleise zum Umsetzen nutzt und zur Abfahrt bereit steht. Werden dort jedoch gerade Wagen entladen, können diese nicht einfach ans Streckenende geschoben werden, um die Ladestraße freizumachen. Dann ist unser Bahnwärter gefragt: Kurz nach dem Eintreffen des Zuges schließt er die Gleissperre auf und legt das Deckungssignal mit dem Schlüssel um, der vorher in der Gleissperre steckte (Schlüsselabhängigkeit). Anschließend eilt er zur Weiche und harrt der Dinge, die da kommen. Der Zugführer hat unterdessen mit einer Eisenstange auf dem Trittbrett des ersten Wagens Stellung bezogen und der Lokführer lässt den Motor der Köf aufheulen, das Startsignal für ein eingespieltes Team. Der Zug fährt an und bremst kurz, um die Kupplung zu entlasten. In diesem Augenblick löst der Zugführer die Kupplung zum ersten Wagen, indem er die Stange auf den Puffer aufstützt. Nun beschleunigt die Köf gewaltig und kaum hat die kleine Lok die Weichenzungen passiert, wirft unser Bahnwärter die Weiche um, so dass die beiden Donnerbüchsen aufs abzweigende Gleis rollen und vom Zugführer rechtzeitig vor den Rübenwagen mit der Handbremse abgebremst werden. Für dieses „Schnäppern“ genannte Geschicklichkeitsspiel ist der Beifall der wartenden Fahrgäste sicher!
Das risikolose Umsetzen mit einer Kette ist für die Modellbahn besser geeignet, wenn eine Umlaufmöglichkeit fehlt:

Beim Umsetzen mit Kette laufen die Wagen in das Nebengleis. Das Herzstück muss unabhängig von der Weichenstellung polarisiert werden.
Den Hauptteil des Textes bildet ein Ausschnitt des in der Zeitschrift "Spur 0 Lokomotive" erschienenen Artikels "Die Perspektive des Bahnwärters".